
Geschäfte mit dem schwarzen Gold
Von THOMAS MAYER
Die Fahrt aus der Tieflandsbucht hinauf ins erzgebirgische Lugau-Oelsnitzer Steinkohlerevier führt durch die einstige Kohlelandschaft im Südraum. Bald naht die historische Stadt Waldenburg, einst Zentrum eines Fürstentums. Der Sachsenring wird passiert. Zügig ist Oelsnitz im Erzgebirge erreicht.
Manfred Heidel wartet hier. Der Rentner ist Zeitzeuge des Steinkohlebergbaus. Er arbeitete im „Deutschlandschacht I“ als Fördermaschinist. Heidel war dafür zuständig, dass die Kumpel ein- und ausfahren konnten. Er postiert sich auf einer Betonplatte: „Hier ging's nach unten. Hier war der Schacht.“
„Und der gehörte der Stadt Leipzig“, ergänzt Bernd Sikora. Dem Architekten liegt die Bewahrung dieser Geschichte am Herzen. Er hat im Leipziger Stadtarchiv gesucht und ist auf erstaunliche Fakten gestoßen: „Die Stadt Leipzig hatte nach dem Ersten Weltkrieg großes Interesse, die Versorgung seines Gaswerks mit Steinkohle zu sichern. Das geht aus einem Schriftstück an Oberbürgermeister Goerdeler hervor, als dieser Aufsichtsratsvorsitzender der Aktiengesellschaft Gewerkschaft Deutschland geworden war. Am 7. August 1919 hatten dafür die Stadtverordneten 23,5 Millionen Mark zum Kauf von Oelsnitzer Bergbauaktien bewilligt. Das fortan in Besitz genommenen Bergbauunternehmen bestand aus acht Schächten. Es wurde in die Leipziger Stadtwerke eingegliedert, wie übrigens auch der Schacht in Dölitz, und von Leipzig aus verwaltet. Von 1919 bis 1946 fand ein wichtiger Teil Leipziger Industriegeschichte im Erzgebirge statt.“
Die Annalen geben darüber Auskunft: 1923 wurden die Stadträte um eine dringende Bewilligung eines hohen Finanzzuschusses für die Erneuerung des Werkes gebeten. Die bauliche Planung übernahm das renommierte Leipziger Büro Händel & Franke. 1924 wurden 658 832 Tonnen Kohle mit einem Erlös pro Tonne von 20,51 Mark gefördert. Der Reingewinn betrug etwa sechs Prozent.
1925 waren als Aktien-, hier auch Kuxbesitzer genannt, eingetragen: die Stadt Leipzig als Hauptaktio- när, Leipzigs Oberbürgermeister Rothe, Baustadtrat Franke, verschiedene Banken, jüdische Kaufleute, Leipziger Werksdirektoren. 1933 verdiente ein Bergmann 38,49 Mark in der Woche, die Förderung betrug 654 809 Tonnen.
1934 wurden für über zehn Millionen Mark Kohle verkauft. 1937 beschwerte sich das benachbarte Bergbauunternehmen Gewerkschaft Gottes Segen, das sich im Eigentum des Landes Sachsen befand, Leipzig hätte unter Tage Kohleklau betrieben. Im Ergebnis des Streites musste Leipzig für illegal abgebaute Kohle 450 000 Reichsmark Strafe zahlen. Dem Verantwortlichen wurde fristlos gekündigt.
1941 hieß es im Bericht des Grubenvorstandes für die Aktionärsversammlung im Neuen Rathaus zu Leipzig: „Der opferbereite Einsatz der kämpfenden Truppe verpflichtet die Heimat zu erhöhter Leistung.“ Es fehlte indes wegen des Krieges an Bergarbeiternachwuchs. Die Förderung wurde in den Kriegsjahren mit Einbindung von Kriegsgefangenen beibehalten. Am 22. August 1945 verkündete das sächsische Oberbergamt: „Da die sächsische Steinkohleförderung nicht eingeschränkt werden darf, muß von der Gewerkschaft Deutschland verlangt werden, daß sie ihren Betrieb selbst unter Verlusten aufrecht erhält.“ Man rechnete damit, noch zehn bis zwölf Jahre Kohlen fördern zu können. Der Verlust der Stadt Leipzig betrug aber 1945 rund 1 500 000 Mark. Das Ende von Leipzigs Steinkohlebergbau-Aktivitäten kam 1946 mit dem Volksentscheid vom 30. Juni 1946 zum „Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Nazi- und Kriegsverbrechern in das Eigentum des Volkes“. Die Schächte der Stadt Leipzig wurde als Rüstungs- und Kriegsgewinnlerbetriebe eingestuft und auf die Liste A gesetzt. 77,6 Prozent der stimmberechtigten Sachsen entschieden sich für die Enteignung der Betriebe.
Oberbürgermeister Erich Zeigner protestierte zwar noch bei der Landesverwaltung und forderte einen Wertausgleich. Als definitive Antwort wurde ihm aber aus Dresden übermittelt, er solle doch froh sein, von so einer großen Last, welche auf lange Zeit einen ständigen Zuschuss benötigt hätte, befreit zu sein. Mit dem 22. August 1946 wurde Leipzigs Unternehmertum in Oelsnitz/Erzgebirge zu den Akten gelegt.
Oelsnitzer Bergbaugeschichte hat Rolf Vogel hautnah erlebt. Der heute 82-Jährige war letzter Direktor des sozialistischen Karl-Liebknecht-Schachtes, zu dem seit 1950 auch die „Deutschland-Schächte“ gehörten. Nun engagiert sich der Bergbau-Ingenieur im Bergbauverein. Er weiß noch, als es hieß, die Grube macht dicht: „Der letzte Hunt wurde am 31. März 1971 gefördert. 1975 war der letzte Schacht im Oelsnitzer Revier verfüllt.“
Schon damals gab es das Problem, Tausenden Menschen eine neue Perspektive zu bieten. Vogel zeichnete für über 6000 Bergleute verantwortlich. Da es Arbeitslose nicht geben durfte, wurden schnell neue Erwerbsquellen aus dem Boden gestampft. Ein Betonwerk nahm die Produktion auf, die Elektroindustrie siedelte sich auf Schachtgelände an. Der Bergmann a.D. ist noch heute stolz darauf, seinen Bergleuten in schwieriger Zeit beigestanden zu haben, und ihn freut es genau so, dass einige der wichtigen Dokumente der Oelsnitzer Bergbau-Historie im Verein aufbewahrt sind. So kann er eine Original-Aktie vorlegen, die 1850 ein Herr Dufour aus Leipzig an Anleger verkauft hatte. Der Bankier war 1846 ins Kohlegeschäft eingestiegen und Schachtbesitzer im Lugau-Oelsnitzer Revier geworden. Er galt zudem als einer der wichtigen Initiatoren des sächsischen Eisenbahnwesens. Die an Oelsnitz grenzende Gemeinde Lugau erinnert noch heute mit einem Gedenkstein an den umtriebigen Unternehmer.
Sikora, auf dieser Reise in die Vergangenheit ein von Wissen fast überquellender Wegbegleiter, kennt unzählige weitere Details über Leipzigs Geschäfte mit dem schwarzen Gold: „Advokat Volkmann war von 1876 Nachfolger von Dufour als Aufsichtsratsvorsitzender des Lugau-Niederwürschnitzer Steinkohlebauvereins. Kaufmann Clement hatte das gleiche Amt für die Gewerkschaft Kaisergrube in Gersdorf inne. Nach Entwürfen der Leipziger Architekten Ludwig und Hülsner entstand 1895 das Oelsnitzer Rathaus, später auch noch die Rote Schule, die Superindententur und die Friedhofskapelle. Das nahe gelegene Schloss Wolfsbrunn, heute ein empfehlenswertes Hotel im Jugendstil, ließ sich der für den Leipziger Rat tätige Grubenvorstand Dr. Wolf erbauen. Bedeutender Kunstschmuck des Gebäudes stammt von Georg Wrba, der sich zu gleicher Zeit am und im Neuen Rathaus Leipzig verewigte.“
Ist Sikora mit seinen Gästen in Oelsnitz unterwegs, führt sein Weg immer auch zu einem Haus im Bauhausstil. Samuel Schocken, der in Leipzig studiert hatte, begann hier im Erzgebirge seine Geschäftstätigkeit als Kaufhaus-Magnat. Der Neubau des Schocken-Hauses entstand 1929/30 nach Entwürfen von Bernhard Sturtzkopf, einem Schüler von Walter Gropius am Bauhaus Dessau. „Oelsnitz war ein Schmelztiegel des Industriezeitalters“, so Bernd Sikora.
Heute gehen neue Initiativen von der Stadt aus: Sie ist Führungs-Partner in einem EU-Projekt europäischer Bergbaustädte. Leipzig und Oelsnitz – das ist zwar eine Beziehung der meist vergangenen Art, die aber dann doch nicht ohne aktuellen Bezug ist, wenn es wieder Weihnachten wird. Dann kommen die Bergleute, die heute zwar nichts mehr unter Tage zu tun haben, aber ihr Brauchtum pflegen, nach Leipzig. Am 3. Dezember wird die Bergparade aus Oelsnitz erneut mit ihren 360 Musikanten im Leipziger Stadtzentrum aufspielen.
⁄Quellen der Recherche: Stadtarchiv Leipzig, Archiv des Bergbaumuseums und Stadtarchiv Oelsnitz/Erzgebirge, Archiv Bernd Sikora.

Der nicht mehr erhaltene Förderturm des Schachtes „Deutschland I“, der von der Stadt Leipzig betrieben wurde

Manfred Heidel, einst Fördermaschinist, auf der Abdeckung der vormals 699 Meter tiefen Röhre seines Schachtes.

Der „Glück Auf“-Turm – kühne Stahlkonstruktion mit einem großartigen Blick ins Erzgebirge und ins weitere Land.

Rolf Vogel zeigt eine „Dufour-Aktie“, Ausgabejahr 1850. Fotos: Thomas Mayer