Rez. NEG: H. Seidel u.a. (Hgg.): Zwangsarbeit im Bergwerk

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kapl
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Rez. NEG: H. Seidel u.a. (Hgg.): Zwangsarbeit im Bergwerk

Beitrag von kapl »

Seidel, Hans; Tenfelde, Klaus (Hrsg.): Zwangsarbeit im Bergwerk. Der
Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten
Gebiet im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Essen: Klartext Verlag 2005.
ISBN 3-89861-454-9; 1614 S. in 2 Bd.; EUR 79,90.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Rainer Pöppinghege, Historisches Institut, Universität Paderborn
E-Mail: <poepping@muenster.de>

Die jüngere Forschung hat die Allgegenwart von Zwangsarbeit in den
meisten Wirtschaftsbranchen des Deutschen Reichs aufgezeigt. Vielfach
ging es dabei um die Frage nach den Handlungsspielräumen der beteiligten
Betriebe, die bis vor kurzem noch ungeprüft vorgeben konnten, die
Zwangsarbeiter seien ihnen quasi aufgedrängt worden. Inzwischen liegen
differenziertere Ergebnisse – hauptsächlich Lokalstudien – vor, die die
Unternehmen keineswegs von der Verantwortung freisprechen, jedoch mehr
das Mit- und Gegeneinander von Partei, Verwaltungen und Wirtschaft
beleuchten. Dabei sind sowohl die zunächst freiwillig im Reich tätigen
ausländischen Arbeitskräfte ins Blickfeld genommen worden als auch
ausländische Kriegsgefangene und die zwangsweise vorwiegend aus
Osteuropa nach Deutschland deportierten Arbeiterinnen und Arbeiter. Oft
beziehen sich die vorliegenden Studien auf einzelne Betriebe oder
Kommunen bzw. Regionen. Eine gesamte Branche zu untersuchen ist
einigermaßen innovativ. Eine davon, in der Hunderttausende von
ausländischen Arbeitern arbeiten mussten, war der Bergbau. Allein im
Ruhrkohlebergbau waren 350.000 Ausländer beschäftigt, im gesamten
deutschen Steinkohlebergbau betrug der Ausländeranteil zu Spitzenzeiten
rd. 40 Prozent der Gesamtbelegschaft. Allein diese Zahlen belegen
eindrucksvoll das Ausmaß des „Fremdarbeitereinsatzes“. Die heutige
Ruhrkohle AG fühlte sich moralisch verpflichtet, „die unabhängige
wissenschaftliche Erforschung der Zwangsarbeit“ voranzutreiben und
beauftragte das unter Leitung von Prof. Dr. Klaus Tenfelde stehende
Institut für soziale Bewegungen der Ruhruniversität Bochum in
Kooperation mit dem Bochumer Bergbauarchiv mit den umfangreichen
Recherchen zu der vorliegenden Publikation.

Herausgekommen ist ein zweibändiges Standardwerk – bestehend aus einem
Forschungs- und einem Quellenband –, das erstmals eine so wichtige
Industriebranche wie den Kohlebergbau in seiner ganze Breite untersucht
und zentrale Quellen dokumentiert. Neben einem einleitenden Artikel zum
Forschungsstand enthält der Forschungsband 18 Aufsätze, die durch
Inhaltsangaben – in zuweilen abenteuerlichem Englisch – erschlossen
werden können. Erwartungsgemäß kann der Leser auf ein umfangreiches
Personen-, Orts-, Institutionen- und Firmenregister zurückgreifen, ein
Glossar bergmännischer Fachtermini eröffnet darüber hinaus auch dem
Laien Einblicke in die Arbeitswelt unter Tage. Eine gut recherchierte
Auswahlbibliographie rundet den positiven Gesamteindruck des
Forschungsbandes und der Quellenedition ab. Die Aufsätze geben einen
Überblick über den Ausländereinsatz im Bergbau – sowohl im Deutschen
Reich als auch in den während des Zweiten Weltkrieges besetzten
Gebieten. So werden selbst kleinere Fördergebiete wie die Saar und
Sachsen einbezogen. Von den besetzten Gebieten sind dies u.a. Slowenien,
die Niederlande und die Sowjetunion. Betrachtet wird neben dem Stein-
auch der Braunkohlebergbau.

Beim Thema Zwangsarbeit stellt sich auch im Bergbau die Frage nach der
Handlungsfreiheit der Unternehmen: viele Geschäftsleitungen zeichneten
sich zunächst durch Skepsis und Zurückhaltung aus. Die Gründe hierfür
unterschieden sich nicht sonderlich von jenen in anderen Branchen. Man
befürchtete disziplinarische Probleme und erwartete – meistens zu Recht
– einen Rückgang der Produktivität. Seit 1942, so die Kernthese,
mangelte es den Unternehmen jedoch an Optionen, wollten sie ihre
Fördermengen nicht drastisch sinken lassen. Damit waren dem massenhaften
zwangsweisen Einsatz von ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen
Tür und Tor geöffnet. Die Untersuchung und die vorzüglich edierten
Dokumente erlauben den Blick in ein mörderisches Ausbeutungs- und
Vernichtungssystem und dessen innere Widersprüche. Wer wann welche
Kompetenzen beanspruchte, ist auch hierbei von Belang und belegt einmal
mehr den polykratischen Charakter des Dritten Reiches. Das Werk ist
einem strikt wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Ansatz verpflichtet,
kulturgeschichtliche Fragen werden nicht berührt. Dies zeigt sich auch
an der Auswahl der Dokumente: Immer sind es die Quellen der „Täter“ in
Politik, Unternehmen und Verwaltungen, die „Opferperspektive“ der
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen bleibt ausgeklammert. Ihre
Lebenssituation erschließt sich nur mittelbar aus den Quellen
beispielsweise der Betriebsleitungen.

Der Reiz der Beiträge liegt im hohen Grad der Vergleichbarkeit der
einzelnen Beiträge, die sich für die Zeit des Zweiten Weltkriegs sowohl
mit den Bergbauregionen im Altreich als auch in den besetzten Gebieten
befassen. Dabei kommt entsprechend seiner wirtschaftlichen Bedeutung dem
Ruhrbergbau eine besondere Bedeutung zu, wie Hans-Christoph Seidel in
seinem Beitrag verdeutlicht. Er identifiziert das Jahr 1942 als jenen
Zeitpunkt, der eine deutliche quantitative Dynamik hinsichtlich des
Ausländereinsatzes markierte. Bis zum Kriegsende wuchs der Anteil der
Ausländer unter den Belegschaften auf nahezu 40 Prozent, was einer
„deutlich überproportionalen Ausländerbeschäftigung im Ruhrbergbau“ (Bd.
1, S. 151) auch im Vergleich mit anderen schwerindustriellen Branchen
entsprach. Freilich erwuchsen den Zechen dadurch erhebliche Disziplin-
und Motivationsprobleme, so dass die Produktivität insbesondere der
russischen Arbeiter unter derjenigen der deutschen Kollegen blieb. Eng
hieran gekoppelt war die Frage der Behandlung der Ausländer, die, so
Seidel, in kleineren Betrieben in der Regel besser war als in den
unpersönlichen Großbetrieben (Bd. 1, S. 157). Mit Problemen anderer Art
hatten die deutschen Besatzer beispielsweise in Slowenien zu kämpfen,
wie Sabine Rutar zeigt. Parallel zur wirtschaftlichen Ausbeutung
betrieben die Deutschen eine mehr oder minder konsequente
Volkstumspolitik, die jene als „germanisierungsfähig“ erachtete
slowenische Minderheit einigermaßen pfleglich behandelte – während die
nicht „eindeutschungsfähigen“ Einwohner kurzerhand umgesiedelt bzw. für
den Arbeitseinsatz im dortigen Braunkohlebergbau vorgesehen wurden.
Allein diese Konstellation ließ Inkonsistenzen und innere Widersprüchen
zwischen wirtschaftlichem Ausbeutungsanspruch und Germanisierungspolitik
erkennen. Dabei führten beide Varianten des Herrschaftsanspruchs zu
einem identischen Ergebnis: Die anti-deutsche Stimmung wuchs, so dass
die Besatzer immer häufiger Sabotageakte auf den Zechen registrieren
mussten.

Den Anspruch, eine „vergleichende Perspektive“ beider Weltkriege (S. 26)
einzunehmen, kann das Werk angesichts seiner quantitativen Gewichtung
nicht einlösen. Wenn der Untertitel eine Darstellung des
Arbeitseinsatzes im Kohlenbergbau „im Ersten und Zweiten Weltkrieg“
ankündigt, dann muss die Tatsache überraschen, dass lediglich zwei [!]
von 18 Aufsätzen dem Ersten Weltkrieg gewidmet sind. Im Dokumententeil
wird diese Diskrepanz noch deutlicher: Ganze sechs [!] Dokumente wurden
zum Ersten Weltkrieg zusammengetragen, die restlichen 399 entfallen auf
die Zeit des Dritten Reiches! Dieses bedauerliche Ungleichgewicht mag
durchaus der unbefriedigenden Quellenlage für die Zeit von 1914-1918 und
natürlich der unterschiedlichen Bedeutung des Arbeitseinsatzes in den
beiden Weltkriegen geschuldet sein, lässt den Leser aber doch
einigermaßen ratlos zurück. Um tatsächlich einen Vergleich anzustellen
oder gar Ulrich Herberts [1] These von der „Lernfähigkeit“ der
Nationalsozialisten in Fragen des Ausländereinsatzes zu untersuchen,
bedarf es weiterer Forschungen insbesondere zum Ersten Weltkrieg, so
verdienstvoll und qualitativ hochwertig die beiden Aufsätze zum Einsatz
belgischer Arbeiter an der Ruhr 1914-1918 auch sind. Abgesehen davon
suggeriert die von den Herausgebern vorgenommene Gewichtung, der Erste
Weltkrieg sei lediglich als „Aufgalopp“ für den Zweiten zu erachten und
entbehre einer eigenen historischen Legitimität. Klammert man diese
Kritik aus, so ist für die Zwangsarbeit in den Bergwerken unter den
Nationalsozialisten aber zweifellos ein Standardwerk vorgelegt worden,
das künftige Forschungen über Jahre hinaus befruchten dürfte.

Anmerkung:
[1] Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des
„Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches,
Berlin 1999, bes. S. 27-40.


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf <ziegeldorfv@geschichte.hu-berlin.de>

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