Rez. Cramm: Bergbau ist nicht eines Mannes Sache: Das Bergwe

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kapl
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Beitrag von kapl »

Bergbau ist nicht eines Mannes Sache: Das Bergwerk Victor-Ickern in
Castrop-Rauxel, bearb. von Tilo Cramm, Essen: Klartext-Verl. 2000, 539 S.,
517 Abb., 45 DM, ISBN 3-88474-928-5

Rezensiert von Martin Lochert, Castrop Rauxel, für FORUM
Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, Heft 2 (Oktober 2001)

Das Buch "Bergbau ist nicht eines Mannes Sache" stellt die Geschichte des
1973 stillgelegten Bergwerks Victor-Ickern dar. Sein 40 km² großes
Grubenfeld nahm den gesamten Castrop-Rauxeler Norden (ausgenommen
Henrichenburg) ein und reichte weit über die Stadtgrenze nach Osten hinaus
fast bis zur Waltroper Stadtmitte. Es wurde erschlossen durch drei
Schachtanlagen und vier Einzelschächte.
Die älteste Schachtanlage, Victor 1/2, entstand ab 1872 direkt nördlich des
Castrop-Rauxeler Hauptbahnhofs, fünf Jahre später wurde die Kohlenförderung
aufgenommen. Wegen ungünstiger Lagerungsverhältnisse entwickelte sich das
Bergwerk nach Osten, 1905 begann die Kohlenförderung auf der Schachtanlage
Victor 3/4 zwischen Habinghorst und Ickern, 1912 auf der Schachtanlage
Ickern 1/2 im Ickerner Nordosten. In der Weltwirtschaftskrise wurde 1932 die
Förderung auf Victor 1/2 eingestellt. Ab 1962 wurde die Kohle nur noch am
Standort Ickern 1/2 gehoben, 1973 schließlich das Bergwerk stillgelegt,
nachdem insgesamt etwa 126 Mill. t Kohle gefördert worden waren. Nur das
Ostfeld Ickern mit den Schächten 3 und 4 fiel an das Lüner Bergwerk Minister
Achenbach, stillgelegt 1992. Da Victor-Ickern überwiegend Fettkohlen
förderte, bestanden ab 1883 zeitweilig mehrere Kokereien; mit der Kokerei
auf Victor 3/4 wurde 1972 die letzte stillgelegt. Die Gesamtproduktion aller
Kokereien erreichte fast 45 Mill. t Koks. Das Bergwerk hat entscheidend die
Nordhälfte der Stadt Castrop-Rauxel geprägt. Vor seiner Gründung waren die
Ortsteile Rauxel-Bahnhof, Habinghorst und Ickern unbedeutende Bauerschaften,
mit dem schnellen Wachstum des Bergwerks und dem Zuzug der Arbeitskräfte -
Victor-Ickern erreichte 1924 einen Höchststand der Belegschaft von 9909 -
setzte eine rasante Bevölkerungszunahme ein. Verbunden damit war ein
umfangreicher Werkswohnungsbau: ca. 70% der Wohnungen in der Nordhälfte
Castrop-Rauxels (ausgenommen Henrichenburg) waren Zechenwohnungen. Der
bekannte, aber lange Zeit falsch zugeordnete Masurenaufruf der Gew. Victor
von 1908 diente zur Belegung der im Bau befindlichen Bergarbeiterkolonie
Ickern; er wird im Buch klar herausgearbeitet.
Somit standen die Autoren dieser Gemeinschaftsarbeit, 28 Ehemalige des
Bergwerks, vor einer Mammutaufgabe, die sie hervorragend gelöst haben. Als
erstes Beispiel für die Themenbreite seien die Unterkapitel des Kapitels 3
"Der verwaltungsmäßige Verbund von Victor-Ickern 1922 bis 1945" genannt:
Arbeitskämpfe, Kapp-Putsch und Rote Ruhrarmee; Ruhrbesetzung und Inflation;
Technische Entwicklung unter Tage; Veränderungen in den Tagesbetrieben;
Wohnungswesen; Beginn der planmäßigen Ausbildung; Weg in die
Weltwirtschaftskrise und den Nationalsozialismus; Zweiter Weltkrieg auf
Victor-Ickern.
Weitere Beispiele sind die langjährigen Bemühungen um die Vollmechanisierung
des Kohlenabbaus, die schließlich 1970 im Einsatz des ersten Schildstrebs im
westdeutschen Steinkohlenbergbau gipfelten, aber auch die Darstellung des
größten Grubenbrandes des Bergwerks und zugleich eines der größten im
deutschen Steinkohlenbergbau überhaupt im Jahr 1961.
Auf Grund des Umfangs des Buches sind die Verfasser in der Lage, diese
Themenbreite auch mit der entsprechenden Tiefe und Ausführlichkeit
darzustellen. Es ist im positiven Sinne unverkennbar, daß hier Fachleute vom
Bergwerksdirektor bis zum Schachthauer am Werke waren, die auch über den
"Tellerrand" ihres Bergwerks hinaus sehen. Dabei ist es dem Bearbeiter Tilo
Cramm, der selbst als Wirtschaftsingenieur auf Victor-Ickern tätig war,
gelungen, eine Sprachebene zu finden, die den Fachmann zufriedenstellt, die
es aber auch dem Laien gut ermöglicht, dieses Buch zu lesen, zumal
Fachbegriffe in einem umfangreichen Glossar erläutert werden.
Erfreulich ist, daß vielfach Mitarbeiter zu Wort kommen. Derartige Zitate
geben gerade dem bergbaufremden Leser einen unmittelbaren Einblick in den
Betrieb eines Bergwerks, in die Schwierigkeiten und Erfolge, aber auch z.B.
in das Leben in den Zechenkolonien. Gut 500 Fotos, Karten und Zeichnungen
veranschaulichen die Textaussagen. Durch das relativ große Format des Buches
(DIN A 4) können sie in angemessener Größe wiedergegeben werden, ohne daß
darunter der Umfang des Textes zu leiden hätte.
Es gibt eigentlich nur zwei Ergänzungen, die für eine zweite Auflage
wünschenswert wären: ein Personen- und Stichwortverzeichnis würde hilfreich
sein; eine ausführlichere Darstellung der Westdeutschen
Holzhandelsgesellschaft und der Klöckner Durilit in Rauxel, die beide
ebenfalls zum Klöckner-Konzern gehörten und die einen Teil ihrer Produkte an
Victor-Ickern lieferten, würde eine letzte Lücke schließen. Dies allerdings
schmälert den Wert dieses Buches nicht im geringsten. Es ist eines der
Besten seiner Art und es ist zu wünschen, daß es weite Verbreitung findet.
Es ist nicht nur empfehlenswert für diejenigen, die sich für dieses Bergwerk
interessieren, sondern für alle, die sich über den Ruhrbergbau in seinen 100
bedeutendsten Jahren informieren wollen.





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